Man hofft bescheiden zumindest auf ein gutes
Jahr. Und das Musical "Aida" hat jenseits des
großen Teiches nicht von ungefähr vier Tony
Awards und einen Grammy Award eingeheimst. Die
mit viel Tamtam eingeläutete Premiere im
Essener Colosseum Theater bietet durchaus
Anlass zu Hoffnungen.
Ist "Aida" nicht jene Oper von Giuseppe
Verdi, die eigentlich zur Eröffnung des
Suezkanals gespielt werden sollte und mit dem
Triumphmarsch einen Klassik-Hit hat? Genau.
Leonard Bernsteins ruhmreiche "West Side
Story" geht auf Shakespeares "Romeo und Julia"
zurück. Und Andrew Llloyd Webbers "Cats" hat
mit den Gedichten von T. S. Eliot auch keinen
schlechten Paten. Der Komponist Sir Elton John
und sein bewährter Texter Sir Tim Rice sind
also nicht allein.
Und sie nutzen Verdis grandiose Oper wirklich
nur als Handlungsgerüst (also kein
Triumphbeat), wobei die traurige
Dreiecksgeschichte von der nubischen
Prinzessin Aida, dem ägyptischen Helden
Radames und seiner ihm versprochenen
Prinzessin Amneris noch etwas anders gelenkt
ist als im Original. Man erfährt, wenn auch
nicht ganz ohne Plattitüde, von der Gewalt der
Väter, von der vernichtenden Kraft politischer
Intrigen. In der Musical-"Aida" taucht sogar
Zosar auf, der böse Papa von Radames. Es gibt
schöne Lebensweisheiten wie "Wer Mut hat, hat
auch Glück" und "Der Apfel fällt nicht weit
vom Stamm".
Das Ganze lief schon anderswo, in New York
und Scheveningen. Es gibt in der wohl für
Essen überarbeiteten Inszenierung der
deutschen Erstaufführung von Robert Falls viel
zu sehen. Die Idee, das Drama aus einem Museum
der Gegenwart zu entwickeln, hatten freilich
schon andere. Der Regisseur Pet Halmen etwa.
Falls arbeitet solide, schafft klare
Figurenkonstellationen und ist nicht durchweg
ein Freund der übergroßen Geste.
Wie's sein muss in der Sphäre des Broadway,
ist alles bunt und bewegt. Bühne und Kostüme
(Bob Crowley) bieten Opulentes. Mit Palmen,
Schiffen, Nil und Gruft, in der die verbotene
Liebe zumindest vorläufig für Radames und Aida
endet. Die Lichtregie (Natasha Katz) wird zur
eigenen Kraft. Die Choregraphie von Wayne
Cilento bleibt etwas bieder.
Früher einmal war es so, dass ein gutes
Musical (die deutschen Texte stammen einmal
mehr von Michael Kunze) von Ohrwürmern lebte.
Wir denken an "Maria" aus der "West Side
Story", an "All I ask of You" aus dem "Phantom
der Oper" oder ganz altmodisch an "Singin' in
the Rain" zum Beispiel. Elton John hat
dereinst wirkliche eine reiche Fülle griffiger
Songs geschrieben, wunderschöner Balladen,
Evergreens. Den einprägsamen Ohrwurm bleibt
er in seiner "Aida" letztlich doch schuldig. Von
der Musik, die noch ab und zu an die gute alte
Zeit Elton Johns erinnert, bleibt nicht allzu
viel hängen. Sie dient dem Zweck, keineswegs
schlechter als die "Elisabeth"-Musik, nähert
sich Blues, Gospel, Rock, Pseudo-Exotismen.
Bob Edwards steht im Graben am Pult seines
kleinen Ensembles: ein erfahrener Fährmann,
ganz offensichtlich. Die da singen, machen
ihre Sache gut: der sympathische, auch in
Höhen sichere Schwede Mathias Edenborn
(den man nicht immer textlich trefflich versteht)
als Radames, der wendige Joel Karie als sein
pfiffiger Kammerdiener Mereb, der ein wenig an
den Pedrillo aus Mozarts "Entführung" erinnert
und bei Verdi nicht vorkommt.
Die Amneris von Marciel zeigt am deutlichsten
eine Entwicklung: vom eitlen Dummchen zum
traurigen Frauchen. Marciel singt das alles
nuancenreich mit viel Feeling. Und Florence
Kasumba - wenn man so will: ein Essener
Gewächs - erfüllt die Partie der Aida vokal
mit imposanter Strahlkraft und darstellerisch
selbstbewusst und gar nicht eindimensional bis
zum bitteren Ende.
Musical will keine Oper sein. "Aida" ist von
den Novitäten der letzten Jahre eine der
besseren. Man wird unterhalten. Und so muss
das auch sein.
Michael Stenger