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Über Mathias

Pressespiegel

12.03.2007 13:30:45
Leinwandsprengende Emotionen
St. Galler Tagblatt, 12. März 2007
Elend, malerisch schön und dramatisch aufgeladen: «Les Misérables» von Boublil/Schönberg am Theater St. Gallen

Das Musical geht auf die Barrikaden: Mit der Schweizer Erstaufführung des Revolutionsdramas «Les Misérables» wird St. Gallen seinem guten Ruf als Musicalhochburg mehr als gerecht und bringt am Premierenabend die Massen in Bewegung.

von BETTINA KUGLER

Näher bei Gott ist wohl nur noch Jesus selbst, im Kosmos des Musicals: Jesus Christ Superstar. Ganz unten beginnt der Weg des Jean Valjean; in der tiefsten menschlichen Erniedrigung, der blanken Armut – im Staub der Sträflingskolonie, wo er ein halbes Menschenleben für ein aus Hunger gestohlenes Stück Brot in schweren Ketten schuften soll. Doch die Geschichte will es, dass Valjean im rechten Moment die Kurve kriegt; dass er erfährt, was Gnade ist und anderen zum Retter wird. Seine Vergangenheit allerdings zieht wie ein Schatten mit, während die Tapferen auf den Barrikaden die Zukunft erstreiten.
Übermächtig ist der religiöse Unterton in «Les Misérables», unübersehbar die allegorische Dimension des Stücks als Welttheater in buchstäblich revolutionären Zeiten. Und selten wirkt das Ringen zwischen Gut und Böse, wirken das inständige Gebet, der selbstlose Einsatz für andere, der «lange Weg nach Golgatha» einer Bühnenfigur so frei von frömmelndem Kitsch, so schlicht und ergreifend wie in der Musical-adaptation von Victor Hugos Roman «Les Misérables». Zumindest in St. Gallen – was nicht zuletzt auch der glücklichen Besetzung mit Oskar Bly als Valjean zu verdanken ist.

Starke Kontraste
Bly lässt der Figur Ecken und Kanten, bügelt sie sängerisch nicht glatt, misst zwischen Anfechtung und Sendung ein weites Spektrum aus; er brüllt, flüstert ergriffen, ängstlich, verzweifelt, singt sich selbst Mut zu. Er füllt die wechselnden Rollen seines Lebens im Laufe des Abends, ohne in Stereotype zu fallen und ohne jemals im geradezu permanent wabernden Bühnennebel an Kontur zu verlieren. In Mathias Edenborn als Inspektor Javert hat er zudem einen brillanten, darstellerisch wie stimmlich souveränen Gegenspieler.
Mit starken Kontrasten halten Regisseur Matthias Davids und seine Ausstatter Mathias Fischer-Dieskau und Noelle Blancpain das Publikum knapp drei Stunden lang in Atem: Düstere, karge Szenen wechseln jäh mit grellem Treiben am Hafen von Montreuil und in den verwinkelten Strassen von Paris. Die Bildideen stammen teils aus dem Museum – so das mehrfach zitierte Revolutionsbild von Eugène Delacroix –, teils simulieren sie über Projektionen grosses Kino. Beinahe immer aber sprengen sie die Leinwand durch die Lebendigkeit des Theatralischen. Da tun verzögernde Ruhepausen zwischendurch den aufgewühlten Herzen gut. Der erlösende Jubel am Ende ist gross – und berechtigt.

Temporeiche Szenenwechsel
Launisch schaukelt auch die Musik aus dem Graben die Emotionen hin und her, bis zum dramatischen Kulminationspunkt, dem Barrikadenkampf. In der technischen Wiedergabe blieben am ersten Abend noch Wünsche offen; die Mikroports erwiesen sich hier und da als unzuverlässig, manche Klangfarbe wirkte in der Verstärkung stumpf und eigentümlich verfremdet. Das ist umso bedauerlicher, als ansonsten die Bühnentechnik perfekt funktioniert, das Tempo der schnellen Umbauten stimmt, das Auge voll auf seine Kosten kommt – und Sänger wie Orchestermusiker (Leitung: Koen Schoots) auskosten, was Schönbergs Partitur an Ausdruckspotenzial zu bieten hat.
Nichts Menschliches kommt da zu kurz: nicht die gefallene Unschuld, die Carola Vasicek als Fantine ins Legendenhafte überhöht, nicht die romantische, kämpferische Leidenschaft eines Marius, für den Jesper Tydén die Idealbesetzung ist; auch nicht die Niedertracht, die grotesk-bösartige Seite des Elends, verkörpert durch das hinreissend wüste Lumpenpaar Thénardier (Sonja Atlas, Kurt Schrepfer).
Dass Regisseur Matthias Davids die heilsgeschichtliche Perspektive in seiner Inszenierung am Theater St. Gallen nicht unterschlägt oder beiläufig herunterspielen lässt, sondern in prägnante Bilder fasst, schafft dramaturgisch ein starkes Gegengewicht zur erwartbaren Nummer sicher, die «Les Misérables» zweifellos ist – anders als «Dracula», mit dem Davids vor zwei Jahren weniger Glück hatte.

Atmosphärische Dichte
Natürlich schlägt die Schweizer Erstaufführung des seit langem in Paris und London laufenden Musicals auch durch die gekonnte Mischung aus politisch aufrührerischer Rahmenhandlung und herzbewegender Lovestory in ihren Bann, durch ihre an der populären Oper orientierte Sanglichkeit und orchestrale Opulenz. Aber ihr gelingt darüber hinaus, was selten glückt im Feuerwerk der Spezialeffekte, in der gattungsüblichen Neigung zur temporeichen Materialschlacht: Sie strafft nicht nur bühnenwirksam auf das Allernotwendigste, sondern bewahrt atmosphärisch die Dichte und die symbolische Verweiskraft des Romans. Sie leuchtet den Figuren in die Seele. Dort finden, wie auf den Barrikaden, Kämpfe statt, in denen sich nicht nur Herz und Schmerz feindlich gegenüberstehen.